Textes

Arendt, Hannah
Günter Gaus im Gespräch mit Hannah Arendt

Was bleibt? Es bleibt die Muttersprache.

Hannah Arendt, geboren am 14. Oktober 1906 in Hannover, gestorben am 4. Dezember 1975 in New York.
Aufgewachsen in Königsberg. Studium der Philosophie, Theologie und des Griechischen. 1933 aus rassischen Gründen emigriert. Bis 1940 Arbeit in einer Wohlfahrtsorganisation in Paris. Seit 1941 in den USA, war sie zunächst freie Journalistin, dann Lektorin, später Geschäftsführerin der Jewish Cultural Reconstruction. Nach eigenen Worten "fahrender Scholar" – Lehre der Politischen Theorie an verschiedenen Universitäten. 1963 Professorin an der Universität von Chicago. Ab 1967 "university professor" an der Graduate Faculty der New School for Social Research (heute: New School University) in New York. Zahlreiche politisch-philosophische Werke über die Bedingungen, unter denen politisches Handeln und Verhalten zustande kommt (u.a. "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", 1955; "Vita activa", 1958). Verfasserin eines heftig umstrittenen Buches über den Eichmann-Prozeß in Jerusalem.
Das Gespräch wurde gesendet am 28. Oktober 1964.

Gaus: Frau Hannah Arendt, Sie sind die erste Frau, die in dieser Reihe vorgestellt werden soll. Die erste Frau, wenn auch freilich mit einer nach landläufiger Vorstellung höchst männlichen Beschäftigung: Sie sind Philosophin. Ich komme von dieser Vorbemerkung zu meiner ersten Frage: Empfinden Sie Ihre Rolle im Kreis der Philosophen, trotz der Anerkennung und des Respekts, die man Ihnen zollt, als eine Besonderheit – oder berühren wir damit ein Emanzipationsproblem, das für Sie nie existiert hat?

Arendt: Ja, ich fürchte, ich muß erst einmal protestieren. Ich gehöre nicht in den Kreis der Philosophen. Mein Beruf – wenn man davon überhaupt noch sprechen kann – ist politische Theorie. Ich fühle mich keineswegs als Philosophin. Ich glaube auch nicht, daß ich in den Kreis der Philosophen aufgenommen worden bin, wie Sie freundlicherweise meinen. Aber wenn wir auf die andere Frage zu sprechen kommen, die Sie in der Vorbemerkung anschnitten: Sie sagen, es ist landläufig eine männliche Beschäftigung. Das braucht ja nicht eine männliche Beschäftigung zu bleiben! Es könnte ja durchaus sein, daß eine Frau einmal eine Philosophin sein wird ...

Gaus: Ich halte Sie für eine Philosophin ...

Arendt: Ja, also dagegen kann ich nichts machen, aber meine Meinung ist, daß ich keine Philosophin bin. Ich habe meiner Meinung nach der Philosophie doch endgültig Valet gesagt. Ich habe Philosophie studiert, wie Sie wissen, aber das besagt ja noch nicht, daß ich dabei geblieben bin.

Gaus: Aber ich würde dennoch gerne – ich bin sehr froh, daß wir auf diesen Punkt gekommen sind – von Ihnen genauer wissen, wo Sie den Unterschied zwischen der politischen Philosophie und Ihrer Arbeit als Professor für politische Theorie sehen. Wenn ich an einige Ihrer Werke denke, etwa an die "Vita activa", dann möchte ich Sie doch unter die Philosophen einreihen dürfen, solange Sie mir nicht den Unterschied genauer definieren.

Arendt: Sehen Sie, der Unterschied liegt eigentlich in der Sache selbst. Der Ausdruck "Politische Philosophie", den ich vermeide, dieser Ausdruck ist außerordentlich vorbelastet durch die Tradition. Wenn ich über diese Dinge spreche, akademisch oder nicht akademisch, so erwähne ich immer, daß zwischen Philosophie und Politik eine Spannung lebt. Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist, eine Spannung, die es in der Naturphilosophie nicht gibt. Der Philosoph steht der Natur gegenüber wie alle anderen Menschen auch. Wenn er darüber denkt, spricht er im Namen der ganzen Menschheit. Aber er steht nicht neutral der Politik gegenüber. Seit Plato nicht!

Gaus: Ich verstehe, was Sie meinen.

Arendt: Und so gibt es eine Art von Feindseligkeit gegen alle Politik bei den meisten Philosophen, ganz wenige ausgenommen. Kant ist ausgenommen. Eine Feindseligkeit, die für diesen ganzen Komplex außerordentlich wichtig ist, weil es keine Personalfrage ist. Es liegt im Wesen der Sache selber.

Gaus: Sie wollen an dieser Feindseligkeit gegenüber der Politik keinen Teil haben, weil Sie glauben, daß es Ihre Arbeit belasten würde?

Arendt: "Ich will an der Feindseligkeit keinen Teil haben", das saß! Ich will Politik sehen mit, gewissermaßen, von der Politik ungetrübten Augen.

Gaus: Ich verstehe. Nun, bitte, noch einmal auf die Emanzipationsfrage: Hat es dieses Problem für Sie gegeben?

Arendt: Ja, das Problem als solches gibt es natürlich immer. Ich bin eigentlich altmodisch gewesen. Ich war immer der Meinung, es gibt bestimmte Beschäftigungen, die sich für Frauen nicht schicken, die ihnen nicht stehen, wenn ich einmal so sagen darf. Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt. Sie soll versuchen, nicht in solche Positionen zu kommen, wenn ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten. Ob ich damit Recht habe oder nicht, weiß ich nicht. Ich selber habe mich irgendwie, mehr oder minder unbewußt – oder sagen wir besser: mehr oder minder bewußt – danach gerichtet. Das Problem selber hat für mich persönlich keine Rolle gespielt. Sehen Sie, ich habe einfach gemacht, was ich gerne machen wollte.

Gaus: Ihre Arbeit – wir werden auf Einzelheiten sicherlich noch kommen – ist in wichtigen Teilen auf die Erkenntnis der Bedingungen gerichtet, unter denen politisches Handeln und Verhalten zustande kommen. Wollen Sie mit diesen Arbeiten eine Wirkung auch in der Breite erzielen, oder glauben Sie, daß eine solche Wirkung in der heutigen Zeit gar nicht mehr möglich ist – oder ist Ihnen ein solcher Breiteneffekt nebensächlich?

Arendt: Wissen Sie, das ist wieder so eine Sache. Wenn ich ganz ehrlich sprechen soll, dann muß ich sagen: Wenn ich arbeite, bin ich an Wirkung nicht interessiert.

Gaus: Und wenn die Arbeit fertig ist?

Arendt: Ja, dann bin ich damit fertig. Wissen Sie, wesentlich ist für mich: Ich muß verstehen. Zu diesem Verstehen gehört bei mir auch das Schreiben. Das Schreiben ist Teil in dem Verstehensprozeß.

Gaus: Wenn Sie schreiben, so dient es Ihrem eigenen, weiteren Erkennen?

Arendt: Ja, weil jetzt bestimmte Dinge festgelegt sind. Nehmen wir an, man hätte ein sehr gutes Gedächtnis, so daß man wirklich alles behält, was man denkt: Ich zweifle sehr daran, da ich meine Faulheit kenne, daß ich irgend etwas notiert hätte. Worauf es mir ankommt, ist der Denkprozeß selber. Wenn ich das habe, bin ich persönlich ganz zufrieden. Wenn es mir dann gelingt, es im Schreiben adäquat auszudrücken, bin ich auch wieder zufrieden. – Jetzt fragen Sie nach der Wirkung. Es ist das – wenn ich ironisch werden darf – eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne, wie ich verstanden habe – dann gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl.

Gaus: Schreiben Sie leicht? Formulieren Sie leicht?

Arendt: Manchmal ja, manchmal nein. Aber allgemein kann ich sagen, ich schreibe niemals, bevor ich nicht sozusagen abschreibe.

Gaus: Nachdem Sie schon vorgedacht haben.

Arendt: Ja. Ich weiß genau, was ich schreiben will. Vorher schreibe ich nicht. Ich schreibe meistens nur eine Niederschrift. Und das geht dann verhältnismäßig rasch, weil es eigentlich nur davon abhängt, wie rasch ich tippe.

Gaus: Die Beschäftigung mit der politischen Theorie, mit dem politischen Handeln und Verhalten steht heute im Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Unter diesen Umständen scheint mir besonders interessant, was ich in einem Briefwechsel gefunden habe, den Sie mit dem israelischen Professor Scholem gehabt haben. Darin haben Sie geschrieben, wenn ich zitieren darf, daß Sie sich "in der Jugend weder für Politik, noch für Geschichte interessiert" hätten. Sie sind, Frau Arendt, im Jahre 1933 als Jüdin aus Deutschland emigriert. Damals waren Sie 26 Jahre alt. Hat Ihre Beschäftigung mit der Politik, das Aufhören des Desinteressements an Politik und Geschichte, einen ursächlichen Zusammenhang mit diesen Vorgängen?

Arendt: Ja, selbstverständlich. Im Jahre ‘33 war das Desinteressement nicht mehr möglich. Es war schon vorher nicht mehr möglich.

Gaus: Und hat auch vorher bei Ihnen schon aufgehört?

Arendt: Ja, natürlich. Ich habe doch mit Spannung Zeitung gelesen. Ich habe doch Meinungen gehabt. Ich habe keiner Partei angehört, ich hatte auch gar kein Bedürfnis danach. Ich war seit 1931 fest davon überzeugt, daß die Nazis ans Ruder kommen würden. Und ich habe doch in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Menschen über diese Probleme gestanden. Aber systematisch habe ich mich eigentlich erst in der Emigration mit diesen Dingen befaßt.

Gaus: Ich habe eine Zusatzfrage zu dem, was Sie eben gesagt haben. Ausgehend von der Überzeugung seit 1931, daß der Machtantritt der Nazis sich nicht verhindern lassen würde, hat es Sie nicht gedrängt, aktiv etwas dagegen zu tun, zum Beispiel durch Eintritt in eine Partei – oder haben Sie dies nicht für sinnvoll gehalten?

Arendt: Ich persönlich hielt es nicht für sinnvoll. Wenn ich es für sinnvoll gehalten hätte – das ist alles sehr schwer nachträglich zu sagen –, dann hätte ich vielleicht etwas gemacht. Ich hielt es für hoffnungslos.

Gaus: Gibt es in Ihrer Erinnerung ein bestimmtes Vorkommnis, von dem Sie Ihre Hinwendung zum Politischen datieren könnten?

Arendt: Ich könnte den 27. Februar 1933, den Reichstagsbrand und die darauf in derselben Nacht erfolgten illegalen Verhaftungen, nennen. Die sogenannten Schutzhaften. Sie wissen, die Leute kamen in Gestapo-Keller oder in Konzentrationslager. Was dann losging, war ungeheuerlich und ist heute oft von den späteren Dingen überblendet worden. Dies war für mich ein unmittelbarer Schock, und von dem Moment an habe ich mich verantwortlich gefühlt. Das heißt, ich war nicht mehr der Meinung, daß man jetzt einfach zusehen kann. Ich habe versucht zu helfen in manchen Dingen. Aber das, was mich dann unmittelbar aus Deutschland weggeführt hat – wenn ich das erzählen soll ... ich habe es niemals erzählt, weil es ja auch ganz belanglos ist –

Gaus: Erzählen Sie bitte.

Arendt: Ich hatte sowieso die Absicht zu emigrieren. Ich war sofort der Meinung: Juden können nicht bleiben. Ich hatte nicht die Absicht, in Deutschland sozusagen als Staatsbürger zweiter Klasse herumzulaufen, in welcher Form auch immer. Ich war außerdem der Meinung, daß die Sachen immer schlimmer werden würden. Trotzdem bin ich schließlich nicht auf so eine friedliche Weise abgezogen. Und ich muß sagen, ich verspürte darüber eine gewisse Befriedigung. Ich wurde verhaftet, mußte illegal das Land verlassen – ich erzähle es Ihnen gleich –, ich hatte sofort eine Befriedigung darüber. Ich dachte, wenigstens habe ich etwas gemacht! Wenigstens bin ich nicht unschuldig. Das soll mir keiner nachsagen. – Nun, die Gelegenheit dazu gab mir damals die zionistische Organisation. Ich war mit einigen der führenden Leute, vor allen Dingen dem damaligen Präsidenten, Kurt Blumenfeld, sehr eng befreundet. Aber ich war keine Zionistin. Man hat auch nicht versucht, mich dazu zu machen. Immerhin war ich in gewissem Sinne davon beeinflußt; nämlich in der Kritik, in der Selbstkritik, die die Zionisten im jüdischen Volke entfaltet haben. Davon war ich beeinflußt, davon war ich beeindruckt, aber politisch hatte ich nichts damit zu tun. Nun, ‘33 traten Blumenfeld und ein anderer, den Sie nicht kennen, an mich heran und sagten zu mir: Wir wollen eine Sammlung anlegen aller antisemitischen Äußerungen auf unterer Ebene. Also sagen wir einmal, Äußerungen in Vereinen, allen Arten von Berufsvereinen, allen möglichen Fachzeitschriften; kurz: dasjenige, was im Ausland nicht bekannt wird. Diese Sammlung zu veranstalten, das fiel damals unter "Greuelpropaganda", wie man es nannte. Das konnte kein Mensch machen, der bei den Zionisten organisiert war. Weil, wenn er hochging, die Organisation hochging.

Gaus: Natürlich.

Arendt: Ist doch klar. Sie fragten mich: "Willst du es machen?" Sage ich: "Natürlich." Ich war sehr zufrieden. Erstens schien mir das sehr vernünftig, und zweitens hatte ich das Gefühl, man kann doch irgendwas tun.

Gaus: Sie sind im Zusammenhang damit verhaftet worden?

Arendt: Ja. Da bin ich hochgegangen. Ich habe sehr großes Glück gehabt. Nach acht Tagen bin ich rausgekommen, weil ich – der Kriminalbeamte, der mich verhaftete, mit dem freundete ich mich an. Das war ein reizender Kerl. Der war ursprünglich von der Kriminalpolizei in die politische Abteilung avanciert. Der hatte keine Ahnung. Was sollte er da? Er sagte mir immer: "Gewöhnlich habe ich doch da immer jemand vor mir sitzen, da sehe ich bloß nach, dann weiß ich schon, was das ist. Aber, was tue ich mit Ihnen?"

Gaus: Das war in Berlin?

Arendt: Das war in Berlin. Ich habe den Mann leider belügen müssen. Ich durfte ja die Organisation nicht hochgehen lassen. Ich habe ihm phantastische Geschichten erzählt, und er sagte immer: "Ich habe Sie hereingebracht. Ich kriege Sie auch wieder raus. Nehmen Sie keinen Anwalt! Die Juden haben doch jetzt kein Geld. Sparen Sie Ihr Geld!" Inzwischen hatte die Organisation für mich einen Anwalt besorgt. Natürlich wieder durch Mitglieder. Und diesen Anwalt schickte ich weg. Weil dieser Mann, der mich verhaftet hatte, so ein offenes, anständiges Gesicht hatte. Ich verließ mich auf ihn und dachte, das ist eine viel bessere Chance, als irgendein Anwalt, der ja doch bloß Angst hat.

Gaus: Sie kamen raus und konnten Deutschland verlassen?

Arendt: Ich kam raus, mußte aber illegal über die grüne Grenze, weil die Sache natürlich weiterlief.

Gaus: In dem schon erwähnten Briefwechsel, Frau Arendt, haben Sie eine Art Mahnung Scholems, Sie möchten doch stets Ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk eingedenk sein, sehr klar als überflüssig zurückgewiesen. Sie schrieben – ich zitiere wieder: "Jude sein gehört für mich zu den unbezweifelbaren Gegebenheiten meines Lebens, und ich habe an solchen Faktizitäten niemals etwas ändern wollen, nicht einmal in der Kindheit." Dazu hätte ich gern einige Fragen gestellt. Sie sind 1906 in Hannover als Tochter eines Ingenieurs geboren und in Königsberg aufgewachsen. Können Sie mir aus Ihrer Erinnerung berichten, was es seinerzeit für ein Kind im Vorkriegs-Deutschland bedeutet hat, aus einer jüdischen Familie zu stammen?

Arendt: Allgemein könnte ich die Frage nicht wahrheitsgemäß beantworten. Was die persönliche Erinnerung angeht: Ich habe von Hause aus nicht gewußt, daß ich Jüdin bin. Meine Mutter war gänzlich areligiös.

Gaus: Ihr Vater war früh gestorben.

Arendt: Mein Vater war früh gestorben. Es klingt alles sehr komisch. Mein Großvater war Präsident der liberalen Gemeinde und Stadtverordneter von Königsberg. Ich komme aus einer alten Königsberger Familie. Trotzdem – das Wort "Jude" ist bei uns nie gefallen, als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zum erstenmal entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen – es lohnt sich nicht zu erzählen – von Kindern auf der Straße. Daraufhin wurde ich also sozusagen "aufgeklärt".

Gaus: War das für Sie ein Schock?

Arendt: Nein.

Gaus: Hatten Sie das Gefühl, jetzt bin ich etwas Besonderes?

Arendt: Ja, sehen Sie, das ist eine andere Sache. Ein Schock war es für mich gar nicht. Ich dachte mir: Ja also, so ist es. Ob ich das Gefühl gehabt habe, daß ich etwas Besonderes bin? Ja! Aber das kann ich Ihnen heute nicht mehr „auseinanderklabüstern“.

Gaus: Welche Vorstellungen das waren?

Arendt: Ich bin der Meinung, objektiv, daß das mit dem Jüdischen zusammenhing. Ich wußte zum Beispiel als Kind – als etwas älteres Kind jetzt –, daß ich jüdisch aussehe. Das heißt, daß ich anders aussehe als die anderen. Das war mir sehr bewußt. Aber nicht in der Form einer Minderwertigkeit; sondern das war eben so. Und dann, meine Mutter, mein Elternhaus sozusagen, war ein bißchen anders, als es gewöhnlich ist. Es war so viel Besonderes daran, auch gegenüber den andern jüdischen Kindern oder den Kindern aus der Familie sogar, daß für ein Kind sehr schlecht festzustellen war, wo war nun das Besondere?

Gaus: Ich möchte gern das, was Sie das Besondere Ihres Elternhauses genannt haben, etwas erläutert bekommen. Sie sagen, daß es für Ihre Mutter nie eine Notwendigkeit gegeben hatte – bis Ihnen das auf der Straße widerfuhr –, Sie über Ihre Zugehörigkeit zum Judentum aufzuklären. War die Bewußtheit, Jude zu sein, die Sie für sich in dem Brief an Scholem reklamieren, Ihrer Mutter verloren gegangen? Spielte das für sie gar keine Rolle mehr? War hier eine Assimilation geglückt, oder gab sich Ihre Mutter jedenfalls der Täuschung hin, daß sie geglückt sei?

Arendt: Meine Mutter war nicht sehr theoretisch veranlagt. Daß sie da irgendwelche spezielle Vorstellungen gehabt hat, glaube ich nicht. Sie selber kam aus der sozialdemokratischen Bewegung, aus dem Kreis um die Sozialistischen Monatshefte; auch mein Vater, vor allen Dingen aber meine Mutter. Und die Frage hat keine Rolle für sie gespielt, sie war selbstverständlich Jüdin. Sie würde mich nie getauft haben! Ich nehme an, sie würde mich rechts und links geohrfeigt haben, wäre sie je dahintergekommen, daß ich etwa verleugnet hätte, Jüdin zu sein. Kam nicht auf die Platte sozusagen. Kam gar nicht in Frage!
Aber die Frage selber hat natürlich in den 20er Jahren, in denen ich jung war, eine viel größere Rolle gespielt als für meine Mutter. Und für meine Mutter spielte sie, als ich erwachsen war, auch eine viel größere Rolle als vorher in ihrem Leben. Das liegt aber an den äußeren Umständen. Ich, zum Beispiel, glaube nicht, daß ich mich je als Deutsche – im Sinne der Volkszugehörigkeit, nicht der Staatsangehörigkeit, wenn ich mal den Unterschied machen darf – betrachtet habe. Ich besinne mich darauf, daß ich so um das Jahr ‘30 herum Diskussionen darüber zum Beispiel mit Jaspers hatte. Er sagte: "Natürlich sind Sie Deutsche!" Ich sagte: "Das sieht man doch, ich bin keine!" Das hat aber für mich keine Rolle gespielt. Ich habe das nicht etwa als Minderwertigkeit empfunden. Das gerade war nicht der Fall. Und wenn ich noch einmal auf das Besondere meines Elternhauses zurückkommen darf: Sehen Sie, der Antisemitismus ist allen jüdischen Kindern begegnet. Und er hat die Seelen vieler Kinder vergiftet. Der Unterschied bei uns war, daß meine Mutter immer auf dem Standpunkt stand: Man darf sich nicht ducken! Man muß sich wehren!
Wenn etwa von meinen Lehrern antisemitische Bemerkungen gemacht wurden – meistens gar nicht mit Bezug auf mich, sondern in bezug auf andere jüdische Schülerinnen, zum Beispiel ostjüdische Schülerinnen –, dann wurde ich angewiesen, sofort aufzustehen, die Klasse zu verlassen, nach Hause zu kommen, alles genau zu Protokoll zu geben. Dann schrieb meine Mutter einen ihrer vielen eingeschriebenen Briefe; und die Sache war für mich natürlich völlig erledigt. Ich hatte einen Tag schulfrei, und das war doch ganz schön. Wenn es aber von Kindern kam, habe ich es zu Hause nicht erzählen dürfen. Das galt nicht. Was von Kindern kommt, dagegen wehrt man sich selber. Und so sind diese Sachen für mich nie zum Problem geworden. Es gab Verhaltensmaßregeln, in denen ich sozusagen meine Würde behielt und geschützt war, absolut geschützt, zu Hause.

Gaus: Sie haben in Marburg, Heidelberg und Freiburg studiert bei den Professoren Heidegger, Bultmann und Jaspers, im Hauptfach Philosophie und daneben Theologie und Griechisch. Wie ist es zu dieser Studienwahl gekommen?

Arendt: Ja, wissen Sie, das habe ich mir auch oft überlegt. Ich kann dazu nur sagen: Philosophie stand fest. Seit dem 14. Lebensjahr.

Gaus: Warum?

Arendt: Ja, ich habe Kant gelesen. Da können Sie fragen: Warum haben Sie Kant gelesen? Irgendwie war es für mich die Frage: Entweder kann ich Philosophie studieren oder ich gehe ins Wasser sozusagen. Aber nicht etwa, weil ich das Leben nicht liebte! Nein! Ich sagte vorhin – dieses Verstehenmüssen.

Gaus: Ja.

Arendt: Das Bedürfnis, zu verstehen, das war sehr früh schon da. Sehen Sie, die Bücher gab es alle zu Hause, die zog man aus der Bibliothek.

Gaus: Haben Sie außer Kant Lektüreerlebnisse, an die Sie sich besonders erinnern?

Arendt: Ja. Erstens Jaspers’ "Philosophie der Weltanschauung", erschienen, glaube ich, 1920. Da war ich vierzehn. Daraufhin las ich Kierkegaard, und so hat sich das dann gekoppelt ...

Gaus: Kam hier die Theologie hinein?

Arendt: Ja. Das hat sich dann so gekoppelt, daß das beides für mich zusammengehörte. Ich hatte dann nur Bedenken, wie man das denn nun macht, wenn man Jüdin ist. Und wie das vor sich geht. Ich hatte doch keine Ahnung, nicht wahr? Da hatte ich schwere Sorgen, die sich dann ohne weiteres beheben ließen. Griechisch ist eine andere Sache. Ich habe immer sehr griechische Poesie geliebt. Und Dichtung hat in meinem Leben eine große Rolle gespielt. So nahm ich Griechisch dazu, weil das am bequemsten war. Das las ich sowieso.

Gaus: Respekt!

Arendt: Nein, das ist übertrieben.

Gaus: Ihre intellektuelle Begabung, Frau Arendt, so früh erprobt – sind Sie von ihr gelegentlich als Schülerin und junge Studentin auf eine vielleicht schmerzliche Weise vom Normalverhalten Ihrer Umgebung getrennt worden?

Arendt: Das hätte so sein müssen, wenn ich es gewußt hätte. Ich war der Meinung, so sind alle.

Gaus: Wann ist Ihnen dieser Irrtum bewußt geworden?

Arendt: Ziemlich spät. Ich will es nicht sagen. Ich schäme mich. Ich war unbeschreiblich naiv. Das lag zum Teil an der häuslichen Erziehung. Es wurde nie darüber gesprochen. Es wurde nie über Zensuren gesprochen. Das galt als minderwertig. Jeder Ehrgeiz galt als minderwertig, zu Hause. Jedenfalls war mir die Sache nicht wirklich bewußt. Sie war mir wohl bewußt manchesmal als eine Art von Fremdheit unter Menschen.

Gaus: Eine Fremdheit, von der Sie glaubten, sie gehe von Ihnen aus?

Arendt: Ja, ausschließlich. Das hat aber nichts mit Begabung zu tun. Das habe ich nie mit der Begabung gekoppelt.

Gaus: Resultierte daraus gelegentlich in jungen Jahren eine Verachtung für die anderen?

Arendt: Ja, das kam vor. Das war schon sehr früh da. Und unter solcher Verachtung habe ich schon manchmal gelitten. Nämlich: daß man das eigentlich nicht soll, und daß man das eigentlich nicht darf und so weiter ...

Gaus: Als Sie 1933 Deutschland verlassen haben, sind Sie nach Paris gegangen, wo Sie in einer Organisation arbeiteten, die jüdische Jugendliche in Palästina unterzubringen versuchte. Können Sie mir darüber etwas erzählen?

Arendt: Diese Organisation brachte jüdische Jugendliche und auch Kinder zwischen dreizehn und siebzehn Jahren aus Deutschland nach Palästina und hat sie dort in den Kibuzzim untergebracht. Daher kenne ich diese Siedlungen eigentlich verhältnismäßig gut.

Gaus: Und aus einer sehr frühen Zeit.

Arendt: Aus einer sehr frühen Zeit; ich habe damals einen sehr großen Respekt davor gehabt. Die Kinder empfingen eine Berufsausbildung, Umschulausbildung. Hier und da habe ich auch polnische Kinder untergeschmuggelt. Es war eine reguläre Sozialarbeit, Erziehungsarbeit. Man hatte große Lager auf dem Lande, wo die Kinder vorbereitet wurden, wo sie auch Stunden hatten, wo sie Landarbeit lernten, wo sie vor allen Dingen zunehmen mußten. Man mußte sie von Kopf bis Fuß anziehen. Man mußte für die kochen. Man mußte vor allen Dingen für sie Papiere beschaffen, man mußte mit den Eltern verhandeln – und mußte vor allen Dingen auch Geld besorgen. Das blieb mir auch noch weitgehend überlassen. Ich habe mit französischen Frauen zusammengearbeitet. Also das war ungefähr die Tätigkeit. Der Entschluß überhaupt, die Arbeit zu übernehmen: Wollen Sie es hören oder wollen Sie nicht?

Gaus: Bitte.

Arendt: Sehen Sie, ich kam aus einer rein akademischen Tätigkeit. Und in der Hinsicht hat das Jahr ‘33 bei mir einen sehr nachhaltigen Eindruck gemacht. Und zwar erstens positiv und zweitens negativ – vielleicht sollte ich sagen: erstens negativ und zweitens positiv. Man denkt heute oft, daß der Schock der deutschen Juden 1933 sich damit erklärt, daß Hitler die Macht ergriff. Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft, kann ich sagen, daß das ein kurioses Mißverständnis ist. Das war natürlich sehr schlimm. Aber es war politisch. Es war nicht persönlich. Daß die Nazis unsere Feinde sind – mein Gott, wir brauchten doch, bitteschön, nicht Hitlers Machtergreifung, um das zu wissen! Das war doch seit mindestens vier Jahren jedem Menschen, der nicht schwachsinnig war, völlig evident. Daß ein großer Teil des deutschen Volkes dahinterstand, das wußten wir ja auch. Davon konnten wir doch nicht ‘33 schockartig überrascht sein.

Gaus: Sie meinen, der Schock lag 1933 darin, daß die Vorgänge vom allgemein politischen ins Persönliche gewendet wurden?

Arendt: Nein, nicht einmal. Oder: das auch. Erstens wurde das allgemein Politische ein persönliches Schicksal, sofern man herausging. Zweitens aber wissen Sie ja, was Gleichschaltung ist. Und das hieß, daß die Freunde sich gleichschalteten! Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa, was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten. Was damals in der Welle von Gleichschaltung, die ja ziemlich freiwillig war, jedenfalls noch nicht unter dem Druck des Terrors, vorging: Das war, als ob sich ein leerer Raum um einen bildete. Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber auch andere Menschen. Und ich konnte feststellen, daß unter den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab ich nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte an. Ich will mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben. Ich war natürlich nicht der Meinung, daß deutsche Juden und deutschjüdische Intellektuelle, wenn sie in einer anderen Situation gewesen wären, als in der sie waren, sich wesentlich anders verhalten hätten. Der Meinung war ich nicht. Ich war der Meinung, das hängt mit diesem Beruf, mit der Intellektualität zusammen. Ich spreche in der Vergangenheit. Ich weiß heute mehr darüber ...

Gaus: Ich wollte Sie gerade fragen: Glauben Sie das noch?

Arendt: Nicht mehr so in dieser Schärfe. Aber daß es im Wesen dieser ganzen Sachen liegt, daß man sich sozusagen zu jeder Sache etwas einfallen lassen kann, das sehe ich immer noch so. Sehen Sie, daß jemand sich gleichschaltete, weil er für Frau und Kind zu sorgen hatte, das hat nie ein Mensch übelgenommen. Das Schlimme war doch, daß die dann wirklich daran glaubten! Für kurze Zeit, manche für sehr kurze Zeit. Aber das heißt doch: Zu Hitler fiel ihnen was ein; und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Ganz phantastische und interessante und komplizierte! Und hoch über dem gewöhnlichen Niveau schwebende Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen Einfällen in die Falle, würde ich heute sagen. Das ist das, was passierte. Das habe ich damals nicht so übersehen.

Gaus: Und deswegen lag ein besonderer Wert für Sie darin, aus diesen Kreisen, von denen Sie damals radikal Abschied nehmen wollten, in eine praktische Arbeit zu kommen?

Arendt: Ja, die positive Seite ist folgendes: Ich gelangte zu einer Erkenntnis, die ich damals immer wieder in einem Satz ausgedrückt habe, darauf besinne ich mich: "Wenn man als Jude angegriffen ist, muß man sich als Jude verteidigen." Nicht als Deutscher oder als Bürger der Welt oder der Menschenrechte oder so. Sondern: Was kann ich ganz konkret als Jude machen? Hinzu kam zweitens die klare Absicht: Jetzt will ich mich in der Tat organisieren. Zum erstenmal. Und organisieren natürlich bei den Zionisten. Das waren ja die einzigen, die bereit waren. Ich meine, bei den Assimilanten, das hätte ja gar keinen Sinn gehabt. Ich habe damit übrigens wirklich nie etwas zu tun gehabt. Mit der Judenfrage selber hatte ich mich vorher beschäftigt. Die Arbeit über "Rahel Varnhagen" war fertig, als ich Deutschland verließ. Und dort spielt das Judenproblem ja eine Rolle. Ich habe das damals auch verfaßt im Sinne von: "Ich will verstehen." Es waren nicht meine persönlichen Judenprobleme, die ich da erörterte. Aber jetzt war die Zugehörigkeit zum Judentum mein eigenes Problem geworden. Und mein eigenes Problem war politisch. Rein politisch! Ich wollte in die praktische Arbeit und – ich wollte ausschließlich und nur in die jüdische Arbeit. Und in diesem Sinne habe ich mich dann in Frankreich orientiert.

Gaus: Bis zum Jahre 1940.

Arendt: Ja.

Gaus: Sie sind im Zweiten Weltkrieg dann in die Vereinigten Staaten von Amerika gelangt, wo Sie heute als Professorin für politische Theorie, nicht Philosophie ...

Arendt: Danke.

Gaus: ... in Chicago arbeiten. Sie wohnen in New York. Ihr Mann, den Sie 1940 geheiratet haben, ist ebenfalls als Philosophieprofessor in Amerika tätig. Nun ist die akademische Provinz, der Sie inzwischen wieder angehören – nach der Enttäuschung aus dem Jahre 1933 – international. Dennoch möchte ich Sie fragen, ob Ihnen das Europa der Vorhitlerzeit, das es nie wieder geben wird, fehlt? Wenn Sie nach Europa kommen: Was ist nach Ihrem Eindruck geblieben, und was ist unrettbar verloren?

Arendt: Das Europa der Vorhitlerzeit? Ich habe keine Sehnsucht, das kann ich nicht sagen. Was ist geblieben? Geblieben ist die Sprache.

Gaus: Und das bedeutet viel für Sie?

Arendt: Sehr viel. Ich habe immer bewußt abgelehnt, die Muttersprache zu verlieren. Ich habe immer eine gewisse Distanz behalten sowohl zum Französischen, das ich damals sehr gut sprach, als auch zum Englischen, das ich ja heute schreibe.

Gaus: Das wollte ich Sie fragen: Sie schreiben heute in Englisch?

Arendt: Ich schreibe in Englisch, aber ich habe die Distanz nie verloren. Es ist ein ungeheurer Unterschied zwischen Muttersprache und einer andern Sprache. Bei mir kann ich das furchtbar einfach sagen: Im Deutschen kenne ich einen ziemlich großen Teil deutscher Gedichte auswendig. Die bewegen sich da immer irgendwie im Hinterkopf – in the back of my mind –; das ist natürlich nie wieder zu erreichen. Im Deutschen erlaube ich mir Dinge, die ich mir im Englischen nicht erlauben würde. Das heißt, manchmal erlaube ich sie mir jetzt auch schon im Englischen, weil ich halt frech geworden bin, aber im allgemeinen habe ich diese Distanz behalten. Die deutsche Sprache jedenfalls ist das Wesentliche, was geblieben ist, und was ich auch bewußt immer gehalten habe.

Gaus: Auch in der bittersten Zeit?

Arendt: Immer. Ich habe mir gedacht, was soll man denn machen? Es ist ja nicht die deutsche Sprache gewesen, die verrückt geworden ist. Und zweitens: Es gibt keinen Ersatz für die Muttersprache. Man kann die Muttersprache vergessen. Das ist wahr. Ich habe es gesehen. Diese Leute sprechen die fremde Sprache besser als ich. Ich spreche immer noch mit einem sehr starken Akzent, und ich spreche oft nicht idiomatisch. Das können die alle. Aber es wird eine Sprache, in der ein Klischee das andere jagt, weil nämlich die Produktivität, die man in der eigenen Sprache hat, abgeschnitten wurde, als man diese Sprache vergaß.

Gaus: Die Fälle, in denen die Muttersprache vergessen wurde: War dies, nach Ihrem Eindruck, die Folge einer Verdrängung?

Arendt: Ja, sehr oft. Ich habe es erlebt bei Leuten, schockartig. Wissen Sie, das Entscheidende ist ja nicht das Jahr ‘33; jedenfalls für mich nicht. Das Entscheidende ist der Tag gewesen, an dem wir von Auschwitz erfuhren.

Gaus: Wann war das?

Arendt: Das war 1943. Und erst haben wir es nicht geglaubt. Obwohl mein Mann und ich eigentlich immer sagten, wir trauen der Bande alles zu. Dies aber haben wir nicht geglaubt, auch weil es ja gegen alle militärischen Notwendigkeiten und Bedürfnisse war. Mein Mann ist ehemaliger Militärhistoriker, er versteht etwas von den Dingen. Er hat gesagt, laß dir keine Geschichten einreden; das können sie nicht mehr! Und dann haben wir es ein halbes Jahr später doch geglaubt, weil es uns bewiesen wurde. Das ist der eigentliche Schock gewesen. Vorher hat man sich gesagt: Nun ja, man hat halt Feinde. Das ist doch ganz natürlich. Warum soll ein Volk keine Feinde haben? Aber dies ist anders gewesen. Das war wirklich, als ob der Abgrund sich öffnet. Weil man die Vorstellung gehabt hat, alles andere hätte irgendwie noch einmal gutgemacht werden können, wie in der Politik ja alles einmal wieder gutgemacht werden kann. Dies nicht. Dies hätte nie geschehen dürfen. Und damit meine ich nicht die Zahl der Opfer. Ich meine die Fabrikation der Leichen und so weiter – ich brauche mich darauf ja nicht weiter einzulassen. Dieses hätte nicht geschehen dürfen. Da ist irgend etwas passiert, womit wir alle nicht fertig werden. Über alle anderen Sachen, die da passiert sind, muß ich sagen: Das war manchmal ein bißchen schwierig, man war sehr arm, und man war verfolgt, man mußte fliehen, und man mußte sich durchschwindeln und was immer; wie das halt so ist. Aber wir waren jung. Mir hat es sogar noch ein bißchen Spaß gemacht. Das kann ich gar nicht anders sagen. Dies jedoch, dies nicht. Das war etwas ganz anderes. Mit allem andern konnte man auch persönlich fertig werden.

Gaus: Ich würde gern von Ihnen hören, Frau Arendt, welchen etwaigen Wandlungen Ihr Urteil über das Nachkriegsdeutschland, das Sie oft besucht haben und in dem Ihre wichtigsten Werke erscheinen sind, seit 1945 unterworfen war.

Arendt: Ich bin zum erstenmal 1949 wieder nach Deutschland gekommen; damals im Auftrag einer jüdischen Organisation für die Rettung jüdischen Kulturguts, Bücher im Wesentlichen. Ich kam mit sehr gutem Willen. Meine Überlegung seit 1945 war die folgende: Was immer ‘33 geschehen ist, eigentlich – angesichts dessen, was dann später geschah – unerheblich. Gewiß, die Treulosigkeit der Freunde, wenn man es einmal so böse sagen darf ...

Gaus: ... die Sie persönlich erfahren haben.

Arendt: Natürlich. Aber wenn einer damals wirklich Nazi geworden war und dann Artikel darüber schrieb, da brauchte er sich ja mir gegenüber persönlich nicht treu zu verhalten. Ich habe sowieso nicht mehr mit ihm gesprochen. Der brauchte sich bei mir nicht mehr zu melden, der war ja abgemeldet. Das ist doch klar. Aber das waren ja alles keine Mörder. Das waren ja nur Leute, wie ich heute sagen würde, die in ihre eigenen Fallen gegangen sind. Dies, was später kam, hatten sie ja auch nicht gewollt. Infolgedessen schien mir, daß es gerade in diesem Abgrund eine Basis geben sollte. Und das ist auch in vielen persönlichen Dingen durchaus der Fall gewesen. Ich habe mich mit Leuten auseinandergesetzt; ich bin nicht sehr freundlich, ich bin auch nicht sehr höflich, ich sage meine Meinung. Aber irgendwie haben sich die Dinge wieder in Ordnung gezogen mit einer Reihe von Leuten. Wie gesagt, das sind ja alles nur Leute, die gelegentlich ein paar Monate oder schlimmstenfalls ein paar Jahre irgend etwas gemacht haben; weder Mörder, noch Denunzianten. Also, wie gesagt: Leute, denen zu Hitler "was eingefallen war". Aber das allgemeine, das größte Erlebnis, wenn man nach Deutschland zurückkommt – abgesehen von dem Wiedererkennenserlebnis, das ja in der griechischen Tragödie immer der Drehpunkt der Handlung ist –, das ist eine große Erschütterung. Und außerdem das Erlebnis, daß auf der Straße deutsch gesprochen wurde. Das hat mich unbeschreiblich gefreut.

Gaus: Mit dieser Vorstellung kamen Sie 1949?

Arendt: So ungefähr kam ich. Und heute, wo die Dinge ja wieder alle, sagen wir einmal: in ein festes Geleis gekommen sind, da sind die Abstände eher größer geworden, als sie vorher waren. Als sie damals waren in dieser Erschütterung.

Gaus: Weil die Verhältnisse hierzulande für Ihr Gefühl allzu schnell wieder in ein festes Geleis geraten sind?

Arendt: Ja. Und auch manchmal in ein Geleis, das ich nicht bejahe. Wobei ich mich aber nicht verantwortlich fühle. Ich sehe es von außen, nicht? Und das heißt, ich bin heute viel weniger beteiligt, als ich es damals noch war. Das kann auch an der Zeit liegen. Hören Sie, fünfzehn Jahre sind ja auch kein Pappenstiel!

Gaus: Sie empfinden eine stärker gewordene Gleichgültigkeit?

Arendt: Distanzierung; Gleichgültigkeit ist zuviel. Aber Distanzierung ist wahr.

Gaus: In diesem Herbst, Frau Arendt, ist in der Bundesrepublik Ihr Buch über den Eichmann-Prozess in Jerusalem erschienen. Diese Arbeit ist seit ihrem Erscheinen in Amerika sehr heftig diskutiert worden; besonders von jüdischer Seite wurden Einwände gegen Ihr Buch erhoben, von denen Sie sagen, daß sie zu einem Teil auf Mißverständnisse, zu einem anderen auf eine gesteuerte politische Kampagne zurückzuführen sind. Anstoß hat vor allem die von Ihnen behandelte Frage erregt, wieweit den Juden ihr passives Erdulden der deutschen Massenmorde angelastet werden müsse, oder wieweit jedenfalls die Kollaboration bestimmter jüdischer Ältestenräte fast zu einer Art Mitschuld geworden ist. Wie dem auch sei – für ein Porträt Hannah Arendts ergeben sich, so scheint mir, aus diesem Buch über Eichmann mehrere Fragen. Darf ich damit beginnen: Schmerzt Sie der gelegentlich erhobene Vorwurf, dieses Ihr Buch ermangle der Liebe zum jüdischen Volk?

Arendt: Zuerst einmal darf ich mit aller Freundlichkeit feststellen, daß Sie natürlich auch schon ein Objekt dieser Kampagne geworden sind. Ich habe nirgends in dem Buche dem jüdischen Volk das Nicht-Widerstehen vorgeworfen. Das hat ein anderer Mensch getan, nämlich Herr Haussner von der israelischen Staatsanwaltschaft im Prozeß gegen Eichmann. Ich habe die von ihm in dieser Richtung ergehenden Fragen an die Zeugen in Jerusalem töricht und grausam genannt.

Gaus: Ich habe das Buch gelesen. Ich weiß das. Nur gründen sich einige der Vorwürfe, die man Ihnen gemacht hat, auf den Ton, in dem manche Passagen geschrieben sind.

Arendt: Nun, das ist eine andere Sache. Dagegen kann ich nichts sagen. Und darüber will ich nichts sagen. Wenn man der Meinung ist, daß man über diese Dinge nur pathetisch schreiben kann … Sehen Sie, es gibt Leute, die nehmen mir eine Sache übel, und das kann ich gewissermaßen verstehen: Nämlich, daß ich da noch lachen kann. Aber ich war wirklich der Meinung, daß der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen und sehr genau gelesen, und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe; aber laut! Diese Reaktion nehmen mir die Leute übel! Dagegen kann ich nichts machen. Ich weiß aber eines: Ich würde wahrscheinlich noch drei Minuten vor dem sicheren Tode lachen. Und das, sagen Sie, sei der Ton. Der Ton ist weitgehend ironisch, natürlich. Und das ist vollkommen wahr. Der Ton ist in diesem Falle wirklich der Mensch. Wenn man mir vorwirft, daß ich das jüdische Volk angeklagt hätte: Das ist eine böswillige Propagandalüge und nichts weiter. Der Ton aber, das ist ein Einwand gegen mich als Person. Dagegen kann ich nichts tun.

Gaus: Das sind Sie bereit zu tragen?

Arendt: Oh, gern. Was soll man denn da machen, nicht wahr? Ich kann den Leuten doch nicht sagen: Ihr mißversteht mich, und in Wahrheit geht in meinem Herzen dies und jenes vor! Das ist doch lächerlich.

Gaus: Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einmal auf ein Selbstzeugnis von Ihnen kommen. Darin heißt es: "Ich habe nie in meinem Leben irgendein Volk oder Kollektiv geliebt, weder das deutsche, noch das französische, noch das amerikanische, noch etwa die Arbeiterklasse oder was es sonst so noch gibt. Ich liebe in der Tat nur meine Freunde und bin zu aller anderen Liebe völlig unfähig. Vor allem aber wäre mir diese Liebe zu den Juden, da ich selbst jüdisch bin, suspekt." Darf ich dazu etwas fragen? Bedarf nicht der Mensch als politisch handelndes Wesen der Bindung an eine Gruppe; einer Bindung, die dann bis zu einem gewissen Grade auch Liebe genannt werden kann? Fürchten Sie nicht, daß Ihre Haltung politisch steril sein könnte?

Arendt: Nein. Ich würde sagen, die andere ist politisch steril. Zu einer Gruppe zu gehören, ist erst einmal eine natürliche Gegebenheit. Sie gehören zu irgendeiner Gruppe durch Geburt, immer. Aber zu einer Gruppe zu gehören, wie Sie es im zweiten Sinne meinen, nämlich sich zu organisieren, das ist etwas ganz anderes. Diese Organisation erfolgt immer unter Weltbezug. Das heißt: Das, was diejenigen miteinander gemeinsam haben, die sich so organisieren, ist, was man gewöhnlich Interessen nennt. Der direkte personale Bezug, in dem man von Liebe sprechen kann, der existiert natürlich in der wirklichen Liebe in der größten Weise, und er existiert in einem gewissen Sinne auch in der Freundschaft. Da wird die Person direkt und unabhängig von dem Weltbezug angesprochen. So können Leute verschiedenster Organisationen immer noch persönlich befreundet sein. Wenn man aber diese Dinge miteinander verwechselt, wenn man also die Liebe an den Verhandlungstisch bringt, um mich einmal ganz böse auszudrücken, so halte ich das für ein sehr großes Verhängnis.

Gaus: Sie halten es für apolitisch?

Arendt: Ich halte es für apolitisch, ich halte es für weltlos. Und ich halte es wirklich für ein ganz großes Unheil. Ich gebe zu, daß das jüdische Volk ein Musterbeispiel eines durch die Jahrtausende sich erhaltenden weltlosen Volksverbands ist …

Gaus: "Welt" im Sinne Ihrer Terminologie verstanden: als der Raum für Politik.

Arendt: Als Raum für Politik.

Gaus: Und so war das jüdische Volk ein apolitisches?

Arendt: Das würde ich nicht ganz sagen, denn die Gemeinden waren natürlich bis zu einem gewissen Grade auch politisch. Die jüdische Religion ist eine Nationalreligion. Aber der Begriff des Politischen galt eben doch nur mit sehr großen Einschränkungen. Dieser Weltverlust, den das jüdische Volk in der Zerstreuung erlitten hat und der, wie bei allen Pariavölkern, eine ganz eigentümliche Wärme zwischen denen erzeugte, die dazugehörten: Dieses hat sich geändert, als der Staat Israel gegründet wurde.

Gaus: Ist damit etwas verlorengegangen, dessen Verlust Sie beklagen?

Arendt: Ja, man bezahlt teuer für die Freiheit. Die spezifisch jüdische Menschlichkeit im Zeichen des Weltverlustes war ja etwas sehr Schönes. Sie sind zu jung, Sie werden das gar nicht mehr gekannt haben. Es war etwas sehr Schönes: dieses „Außerhalb-aller-gesellschaftlichen-Bindungen-Stehen“, diese völlige Vorurteilslosigkeit, die ich sehr stark gerade bei meiner Mutter erlebt habe, die das auch gegenüber der jüdischen Gesellschaft praktizierte. All das hat natürlich außerordentlich großen Schaden genommen. Man zahlt für die Befreiung. Ich habe einmal in meiner "Lessingrede" gesagt ...

Gaus: ... in Hamburg im Jahre 1959 ...

Arendt: Ja, da sagte ich: "Diese Menschlichkeit überlebt den Tag der Befreiung, der Freiheit nicht um fünf Minuten." Sehen Sie, das ist auch bei uns passiert.

Gaus: Sie möchten es nicht zurückdrehen?

Arendt: Nein. Ich weiß, man muß einen Preis für die Freiheit zahlen; aber ich kann nicht sagen, daß ich ihn gern zahle.

Gaus: Frau Arendt, fühlen Sie sich einer Erkenntnis, die Sie auf dem Wege der politisch-philosophischen Spekulation oder soziologischen Analyse gewinnen, so sehr verpflichtet, daß Ihnen die Publikation dieser Erkenntnis zur Pflicht wird? Oder erkennen Sie Gründe an, die das Verschweigen einer erkannten Wahrheit erlauben?

Arendt: Ja, wissen Sie, das ist ein sehr schweres Problem. Das ist im Grunde die einzige Frage, die mich an der ganzen Kontroverse über das Eichmann-Buch interessiert hat. Die ist jedoch nie aufgekommen, außer wenn ich sie angeschnitten habe. Sie ist die einzig ernsthafte Frage. Alles übrige ist doch reines Propagandagewäsch. Also: fiat veritas pereat mundus? Nun, das Eichmann-Buch hat de facto solche Dinge nicht angerührt. Durch das Buch wird im Grunde niemandes legitimes Interesse wirklich beeinträchtigt. Man glaubt es nur.

Gaus: Wobei Sie, was legitim ist, natürlich der Debatte überlassen müssen.

Arendt: Ja, das stimmt. Sie haben Recht. Was legitim ist, das steht noch einmal zur Debatte. Wobei ich wahrscheinlich unter "legitim" anderes verstehe als die jüdischen Organisationen. Aber nun nehmen wir also einmal an, es seien wirkliche, auch von mir anerkannte Interessen im Spiel.

Gaus: Darf man dann eine erkannte Wahrheit verschweigen?

Arendt: Hätte ich es getan? Ja! Allerdings, geschrieben hätte ich es wohl ... Sehen Sie, es hat mich jemand gefragt: Wenn Sie das und das vorausgesehen hätten, hätten Sie das Eichmann-Buch nicht anders geschrieben? Ich habe geantwortet: Nein. Ich wäre vor der Alternative gestanden zu schreiben oder nicht zu schreiben. Man kann ja die Schnauze halten.

Gaus: Ja.

Arendt: Man muß ja nicht immer reden. Jetzt gibt es aber folgendes: Wir kommen jetzt auf die Frage, was man im 18. Jahrhundert die "Tatsachenwahrheiten" genannt hat. Es handelt sich ja nur um Tatsachenwahrheiten. Es handelt sich ja nicht um Meinungen. Nun, für diese Tatsachenmeinungen sind die historischen Wissenschaften an den Universitäten die Hüterinnen.

Gaus: Sie sind nicht immer die besten gewesen.

Arendt: Nein. Sie fallen um. Sie lassen sich vom Staate vorschreiben. Man hat mir berichtet, daß ein Historiker zu irgendeinem Buch über die Entstehung des Ersten Weltkrieges gesagt hat: Ich werde mir davon nicht die Erinnerung an diese erhebende Zeit vermasseln lassen! Das ist also ein Mann, der nicht weiß, wer er ist. Aber das ist ja nicht interessant. De facto ist er der Hüter der geschichtlichen Wahrheit, der Tatsachenwahrheit. Und wie wichtig diese Hüter sind, wissen wir zum Beispiel aus der bolschewistischen Geschichte, wo Geschichte alle fünf Jahre umgeschrieben wird und die Tatsachen, etwa daß es einen Herrn Trotzki gegeben hat, unbekannt bleiben. Wollen wir dahin? Haben die Regierungen daran ein Interesse?

Gaus: Ein Interesse möglicherweise. Aber haben sie darauf ein Recht?

Arendt: Haben sie ein Recht darauf? Sie scheinen doch selber nicht zu glauben, daß sie ein Recht darauf hätten, denn sonst würden sie ja Universitäten überhaupt nicht dulden. Also gibt es ja doch ein Interesse auch der Staaten an der Wahrheit. Ich meine hier jetzt keine Militärgeheimnisse; das ist eine andere Sache. Nun, diese Geschichten liegen ungefähr zwanzig Jahre zurück. Warum soll man nicht die Wahrheit sagen?

Gaus: Weil zwanzig Jahre vielleicht noch zu wenig sind?

Arendt: Das sagen manche Leute, und andere sagen, nach zwanzig Jahren kann man die Wahrheit ja gar nicht mehr herauskriegen. Das heißt, in jedem Falle besteht das Interesse, sich selber reinzuwaschen. Das aber ist kein legitimes Interesse.

Gaus: Sie würden also im Zweifelsfalle der Wahrheit den Vortritt lassen?

Arendt: Ich würde sagen, daß Unparteiischkeit – die ist in die Welt gekommen, als Homer ...

Gaus: ... auch für den Besiegten ...

Arendt: Richtig! „Wenn des Liedes Stimmen schweigen von dem überwundnen Mann, dann laßt mich für Hektor ...“, nicht wahr? Das hat Homer getan. Dann kam Herodot und hat gesagt: "Die großen Taten der Griechen und der Barbaren." Aus diesem Geiste kommt die ganze Wissenschaft, auch noch die moderne, auch die Geschichtswissenschaft. Wenn man dieser Unparteiischkeit nicht fähig ist, weil man vorgibt, sein eigenes Volk so zu lieben, daß man dauernd Schmeichelvisiten bei ihm ablegt – ja, dann kann man nichts machen. Ich bin der Meinung, daß das keine Patrioten sind.

Gaus: In einem Ihrer wichtigsten Werke, der "Vita activa" oder "Vom tätigen Leben", kommen Sie zu dem Schluß, Frau Arendt, daß die Neuzeit den Gemeinsinn, also den Sinn für die Erstrangigkeit des Politischen, entthront hat. Sie bezeichnen als die modernen gesellschaftlichen Phänomene die Entwurzelung und Verlassenheit des Massenmenschen und den Triumph eines Menschentyps, der im bloßen Arbeits- und Konsumvorgang sein Genügen findet. Ich habe dazu zwei Fragen. Zunächst: Wieweit ist eine philosophische Erkenntnis solchen Grades auf persönliche Erfahrungen angewiesen, die den Denkprozeß überhaupt erst in Gang bringen?

Arendt: Ich glaube nicht, daß es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nachdenken. Nicht? Ich lebe in der modernen Welt, und selbstverständlich habe ich in der modernen Welt meine Erfahrungen. Im übrigen ist das ja von vielen anderen auch festgestellt worden. Sehen Sie, die Sache mit dem nur noch Arbeiten und Konsumieren, die ist deshalb so wichtig, weil sich darin wieder eine Weltlosigkeit konturiert. Es liegt einem nichts mehr daran, wie die Welt aussieht.

Gaus: "Welt" immer verstanden als Raum, in dem Politik entsteht.

Arendt: Jetzt noch viel größer gefaßt als der Raum, in dem Dinge öffentlich werden, als Raum, in dem man wohnt und der anständig aussehen muß. In dem natürlich auch Kunst erscheint. In dem alles Mögliche erscheint. Sie besinnen sich, Kennedy hat versucht, den Raum des Öffentlichen ganz entscheidend zu erweitern, indem er die Dichter und die sonstigen Taugenichtse ins Weiße Haus geladen hat. Also das alles könnte noch mit in diesen Raum gehören. Im Arbeiten und Konsumieren jedoch ist der Mensch wirklich völlig auf sich selbst zurückgeworfen.

Gaus: Auf das Biologische.

Arendt: Aufs Biologische und auf sich selbst. Und da haben Sie den Zusammenhang mit der Verlassenheit. Im Arbeitsprozeß entsteht eine eigentümliche Verlassenheit. Ich kann jetzt hier im Moment nicht darauf eingehen, das würde uns zu weit führen. Und diese Verlassenheit ist dieses auf sich selbst Zurückgeworfenwerden, in dem dann gewissermaßen das Konsumieren an die Stelle aller eigentlich relevanten Tätigkeiten tritt.

Gaus: Eine zweite Frage in diesem Zusammenhang: Sie kommen in der "Vita activa" zu dem Schluß, daß die "eigentlichen weltorientierten Erfahrungen" – gemeint sind also Einsichten und Erfahrungen höchsten politischen Ranges – "sich mehr und mehr dem Erfahrungshorizont der durchschnittlichen menschlichen Existenz entziehen". Sie sagen, heute sei "das Vermögen zu handeln auf wenige beschränkt." Was bedeutet dies in der praktischen Politik, Frau Arendt? Wie weit wird unter diesen Umständen eine Staatsform, die wenigstens theoretisch auf der Mitverantwortung aller Staatsbürger beruht, zu einer Fiktion?

Arendt: Ja, ich will das mal ein bißchen einschränken. Sehen Sie, erstens besteht diese Unfähigkeit des sich wirklich sachgemäß Orientierens nicht nur für die breite Masse. Sie besteht ebenfalls für alle anderen Schichten. Ich würde sagen, selbst für den Staatsmann. Der Staatsmann wird umgeben, eingekreist, von einem Heer von Experten. Und eigentlich wäre hier die Frage zu stellen, zwischen dem Staatsmann und dem Experten. Der Staatsmann muß ja schließlich die Entscheidung treffen. Er kann sie sachgemäß ja kaum treffen. Er kann ja all das gar nicht wissen. Er muß es nehmen von Experten und zwar von Experten, die sich prinzipiell immer widersprechen müssen. Nicht? Jeder vernünftige Staatsmann holt sich die entgegengesetzten Expertisen ein. Denn er muß die Sache ja von allen Seiten sehen. Nicht wahr? Dazwischen muß er urteilen. Und dieses Urteilen ist ein höchst mysteriöser Vorgang. In dem äußert sich dann der Gemeinsinn. Was nun, sagen wir mal, die Masse der Menschen betrifft, so würde ich folgendes sagen: Wo immer Menschen zusammen sind, ganz egal in welcher Größenordnung, bilden sich öffentliche Interessen.

Gaus: Nach wie vor.

Arendt: Und bildet sich Öffentlichkeit. In Amerika, wo es ja immer diese spontanen Vereinigungen gibt, die dann auch wieder auseinandergehen, diese associations, von denen schon Tocqueville gesprochen hat, da können Sie das sehr deutlich sehen. Irgendein öffentliches Interesse betrifft jetzt eine bestimmte Gruppe von Menschen, eine Nachbarschaft oder auch nur ein Haus oder eine Stadt oder eine andersgelagerte Gruppe. Dann werden diese Leute zusammenkommen, und sie sind sehr gut imstande, in diesen Dingen öffentlich zu handeln. Denn diese Dinge überschauen sie. Das heißt, worauf Sie mit Ihrer Frage zielten, das gilt ja nur für die allergrößten Entscheidungen auf allerhöchster Ebene. Und da, glauben Sie mir, da ist der Unterschied zwischen dem Staatsmann und dem Mann von der Straße prinzipiell gar nicht sehr groß.

Gaus: Frau Arendt, Sie sind ja mit Karl Jaspers, Ihrem ehemaligen Lehrer, im besonderen Maße als Partner in einem immerwährenden Dialog verbunden. Worin sehen Sie den stärksten Einfluß, den Professor Jaspers auf Sie ausgeübt hat?

Arendt: Sehen Sie, wo Jaspers hinkommt und spricht, da wird es hell. Er hat eine Rückhaltlosigkeit, ein Vertrauen, eine Unbedingtheit des Sprechens, die ich bei keinem anderen Menschen kenne. Dieses hat mich schon beeindruckt, als ich ganz jung war. Er hat außerdem einen Begriff von Freiheit, gekoppelt mit Vernunft, der mir, als ich nach Heidelberg kam, ganz fremd war. Ich wußte davon nichts, obwohl ich Kant gelesen hatte. Ich habe diese Vernunft sozusagen in praxi gesehen. Und wenn ich so sagen darf – ich bin vaterlos aufgewachsen –: Ich habe mich davon erziehen lassen. Ich will ihn um Gottes Willen nicht für mich verantwortlich machen, aber wenn es irgendeinem Menschen gelungen ist, mich zur Vernunft zu bringen, dann ist es ihm gelungen. Und dieser Dialog, der ist natürlich heute ganz anders. Das ist eigentlich mein stärkstes Nachkriegserlebnis gewesen. Daß es ein solches Gespräch gibt! Daß man so sprechen kann!

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. In einer Festrede auf Jaspers haben Sie gesagt: "Gewonnen wird die Humanität nie in der Einsamkeit und nie dadurch, daß einer sein Werk der Öffentlichkeit übergibt. Nur wer sein Leben und seine Person mit in das Wagnis der Öffentlichkeit nimmt, kann sie erreichen." Dieses "Wagnis der Öffentlichkeit", ein Zitat von Jaspers wiederum – worin besteht es für Hannah Arendt?

Arendt: Das Wagnis der Öffentlichkeit scheint mir klar zu sein. Man exponiert sich im Lichte der Öffentlichkeit, und zwar als Person. Wenn ich auch der Meinung bin, daß man nicht auf sich selbst reflektiert in der Öffentlichkeit erscheinen und handeln darf, so weiß ich doch, daß in jedem Handeln die Person in einer Weise zum Ausdruck kommt wie in keiner anderen Tätigkeit. Wobei das Sprechen auch eine Form des Handelns ist. Also das ist das eine. Das zweite Wagnis ist: Wir fangen etwas an; wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie. Wir sind alle darauf angewiesen zu sagen: Herr vergib ihnen, was sie tun, denn sie wissen nicht, was sie tun. Das gilt für alles Handeln. Einfach ganz konkret, weil man es nicht wissen kann. Das ist ein Wagnis. Und nun würde ich sagen, daß dieses Wagnis nur möglich ist im Vertrauen auf die Menschen. Das heißt, in einem – schwer genau zu fassenden, aber grundsätzlichen – Vertrauen auf das Menschliche aller Menschen. Anders könnte man es nicht.