Considérations morales

Entretien au Spiegel Fribourg-Zähringen (23.09.1966)

 

SPIEGEL: Herr Professor Heidegger, in Ihrer Antrittsrede als Rektor der Freiburger Universität 1933 sprachen Sie - vier Monate nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler - von der ,,Größe und Herrlichkeit dieses Aufbruchs".


Heidegger: Ja, ich war auch davon überzeugt.


SPIEGEL: Könnten Sie das noch etwas erläutern?


Heidegger: Gern. Ich sah damals keine andere Alternative. Bei der allgemeinen Verwirrung der Meinungen und der politischen Tendenzen von 22 Parteien galt es, zu einer nationalen und vor allem sozialen Einstellung zu finden, etwa im Sinne des Versuchs von Friedrich Naumann.


SPIEGEL: Wann begannen Sie, sich mit den politischen Verhältnissen zu befassen? Die 22 Parteien waren ja schon lange da. Millionen von Arbeitslosen gab es auch schon 1930.


Heidegger: In dieser Zeit war ich noch ganz von den Fragen beansprucht, die in ,,Sein und Zeit" (1927) und in den Schriften und Vorträgen der folgenden Jahre entwickelt sind, Grundfragen des Denkens, die mittelbar auch die nationalen und sozialen Fragen betreffen. Unmittelbar stand für mich als Lehrer an der Universität die Frage nach dem Sinn der Wissenschaften im Blick und damit die Bestimmung der Aufgabe der Universität. Diese Bemühung ist im Titel meiner Rektoratsrede ausgesprochen ,,Die Selbstbehauptung der deutschen Universität". Ein solcher Titel ist in keiner Rektoratsrede der damaligen Zeit gewagt worden. Aber wer von denen, die gegen diese Rede polemisieren, hat sie gründlich gelesen, durchdacht und aus der damaligen Situation heraus interpretiert?


SPIEGEL: Selbstbehauptung der Universität, in einer solchen turbulenten Welt, wirkt das nicht ein bißchen unangemessen?


Heidegger: Wieso? ,,Die Selbstbehauptung der Universität", das geht gegen die damals schon in der Partei und von der nationalsozialistischen Studentenschaft geforderte sogenannte Politische Wissenschaft. Dieser Titel hatte damals einen ganz anderen Sinn; er bedeutete nicht Politologie wie heute, sondern besagte: Die Wissenschaft als solche, ihr Sinn und Wert, wird abgeschätzt nach dem faktischen Nutzen für das Volk. Die Gegenstellung zu dieser Politisierung der Wissenschaft wird in der Rektoratsrede eigens angesprochen.


SPIEGEL: Indem Sie die Universität in das, was Sie damals als einen Aufbruch empfanden, mit hineinnahmen, wollten Sie die Universität behaupten gegen sonst vielleicht übermächtige Strömungen, die der Universität ihre Eigenart nicht mehr gelassen hätten?


Heidegger: Gewiß, aber die Selbstbehauptung sollte sich zugleich die Aufgabe stellen, gegenüber der nur technischen Organisation der Universität einen neuen Sinn zurückzugewinnen aus der Besinnung auf die Überlieferung des abendländisch-europäischen Denkens.


SPIEGEL: Herr Professor, sollen wir das so verstehen, daß Sie damals meinten, eine Gesundung der Universität mit den Nationalsozialisten zusammen erreichen zu können?


Heidegger: Das ist falsch ausgedrückt. Nicht mit den Nationalsozialisten zusammen, sondern die Universität sollte aus eigener Besinnung sich erneuern und dadurch eine feste Position gegenüber der Gefahr der Politisierung der Wissenschaft gewinnen - in dem vorhin angegebenen Sinne.


SPIEGEL: Und deswegen haben Sie in Ihrer Rektoratsrede diese drei Säulen proklamiert: ,,Arbeitsdienst", ,,Wehrdienst", ,,Wissensdienst". Dadurch sollte, so meinten Sie demnach, der ,,Wissensdienst" in eine gleichrangige Position gehoben werden, die ihm die Nationalsozialisten nicht konzediert hatten?


Heidegger: Von "Säulen" ist nicht die Rede. Wenn Sie aufmerksam lesen: Der Wissensdienst steht zwar in der Aufzählung an dritter Stelle, aber dem Sinne nach ist er an die erste gesetzt. Zu bedenken bleibt, daß Arbeit und Wehr wie jedes menschliche Tun auf ein Wissen gegründet und von ihm erhellt werden.


SPIEGEL: Sie sagten im Herbst 1933: ,,Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Regeln eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige und künftige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz."


Heidegger: Diese Sätze stehen nicht in der Rektoratsrede, sondern nur in der lokalen Freiburger Studentenzeitung, zu Beginn des Wintersemesters 1933/34. Als ich das Rektorat übernahm, war ich mir darüber klar, daß ich ohne Kompromisse nicht durchkäme. Die angeführten Sätze würde ich heute nicht mehr schreiben. Dergleichen habe ich schon 1934 nicht mehr gesagt. (...)


SPIEGEL: Sie wissen, daß in diesem Zusammenhang einige Vorwürfe gegen Sie erhoben werden, die Ihre Zusammenarbeit mit der NSDAP und deren Verbänden betreffen und die in der Öffentlichkeit immer noch als unwidersprochen gelten. So ist Ihnen vorgeworfen worden, Sie hätten sich an Bücherverbrennungen der Studentenschaft oder der Hitlerjugend beteiligt.


Heidegger: Ich habe die geplante Bücherverbrennung, die vor dem Universitätsgebäude stattfinden sollte, verboten.


SPIEGEL: Dann ist Ihnen vorgeworfen worden, Sie hätten Bücher jüdischer Autoren aus der Bibliothek der Universität oder des Philosophischen Seminars entfernen lassen.


Heidegger: Ich konnte als Direktor des Seminars nur über dessen Bibliothek verfügen. Ich bin den wiederholten Aufforderungen, die Bücher jüdischer Autoren zu entfernen, nicht nachgekommen. Frühere Teilnehmer meiner Seminarübungen können heute bezeugen, daß nicht nur keine Bücher jüdischer Autoren entfernt wurden, sondern daß diese Autoren wie vor 1933 zitiert und besprochen wurden.


SPIEGEL: Im Februar 1934 legten Sie das Rektorat nieder. Wie kam es dazu?


Heidegger: In der Absicht, die technische Organisation der Universität zu überwinden, das heißt, die Fakultäten von innen heraus, von ihren sachlichen Aufgaben her, zu erneuern, habe ich vorgeschlagen, für das Wintersemester 1933/34 in den einzelnen Fakultäten jüngere und vor allem in ihrem Fach ausgezeichnete Kollegen zu Dekanen zu ernennen, und zwar ohne Rücksicht auf ihre Stellung zur Partei. (...)


Aber schon um Weihnachten 1933 wurde mir klar, daß ich die mir vorschwebende Erneuerung der Universität weder gegen die Widerstände innerhalb der Kollegenschaft noch gegen die Partei würde durchsetzen können. Zum Beispiel verübelte mir die Kollegenschaft, daß ich die Studenten mit in die verantwortliche Verwaltung der Universität einbezog - genau wie es heute der Fall ist. Eines Tages wurde ich nach Karlsruhe gerufen, wo von mir der Minister verlangte, die Dekane der Juristischen und der Medizinischen Fakultät durch andere Kollegen zu ersetzen, die der Partei genehm wären. Ich habe dieses Ansinnen abgelehnt und meinen Rücktritt vom Rektorat erklärt, wenn der Minister auf seiner Forderung bestehe. Dies war der Fall. Das war im Februar 1934. (...)


SPIEGEL: Vielleicht dürfen wir zusammenfassen: Sie sind 1933 als ein unpolitischer Mensch auf dem Wege über die Universität in diesen vermeintlichen Aufbruch geraten. Nach etwa einem Jahr haben Sie die dabei übernommene Funktion wieder aufgegeben. Aber: Sie haben 1935 in einer Vorlesung, die 1953 als Einführung in die Metaphysik veröffentlicht wurde, gesagt: ,,Was heute" - das war also 1935 - ,,als Philosophie des Nationalsozialismus herumgeboten wird, aber mit der inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung (nämlich mit der Begegnung der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen) nicht das geringste zu tun hat, das macht seine Fischzüge in diesen trüben Gewässern der ,Werte'' und ,Ganzheiten''." Haben Sie die Worte in der Klammer erst 1953, also bei der Drucklegung, hinzugefügt, oder hatten Sie die erklärende Klammer auch schon 1935 drin?


Heidegger: Das stand in meinem Manuskript drin und entsprach genau meiner damaligen Auffassung der Technik und noch nicht der späteren Auslegung des Wesens der Technik als Ge-Stell. Daß ich die Stelle nicht vortrug, lag daran, daß ich von dem rechten Verständnis meiner Zuhörer überzeugt war, die Dummen und Spitzel und Schnüffler verstanden es anders - mochten es auch.


SPIEGEL: Sicher würden Sie auch die kommunistische Bewegung da einordnen?


Heidegger: Ja, unbedingt, als von der planetarischen Technik bestimmt.


SPIEGEL: Auch den Amerikanismus?


Heidegger: Auch dieses würde ich sagen. Inzwischen dürfte in den vergangenen 30 Jahren deutlicher geworden sein, daß die planetarische Bewegung der neuzeitlichen Technik eine Macht ist, deren Geschichte-bestimmende Größe kaum überschätzt werden kann. Es ist für mich heute eine entscheidende Frage, wie dem technischen Zeitalter überhaupt ein - und welches - politisches System zugeordnet werden kann. Auf diese Frage weiß ich keine Antwort. Ich bin nicht überzeugt, daß es die Demokratie ist.


SPIEGEL: Nun ist "die" Demokratie nur ein Sammelbegriff, unter dem sich sehr verschiedene Vorstellungen einordnen lassen. Die Frage ist, ob eine Transformation dieser politischen Form noch möglich ist. Sie haben sich nach 1945 zu den politischen Bestrebungen der westlichen Welt geäußert und dabei auch von der Demokratie gesprochen, von der politisch ausgedrückten christlichen Weltanschauung und auch von der Rechtsstaatlichkeit - und Sie nannten alle diese Bestrebungen "Halbheiten".


Heidegger: Als Halbheiten würde ich sie auch bezeichnen, weil ich darin keine wirkliche Auseinandersetzung mit der technischen Welt sehe, weil dahinter immer noch, nach meiner Ansicht, die Auffassung steht, daß die Technik in ihrem Wesen etwas sei, was der Mensch in der Hand hat. Das ist nach meiner Meinung nicht möglich. Die Technik in ihrem Wesen ist etwas, was der Mensch von sich aus nicht bewältigt. (...)


SPIEGEL: Sie sehen, so haben Sie es ausgedrückt, eine Weltbewegung, die den absoluten technischen Staat entweder heraufführt oder schon heraufgeführt hat?


Heidegger: Ja!


SPIEGEL: Kann überhaupt der Einzelmensch dieses Geflecht von Zwangsläufigkeiten noch beeinflussen? Oder aber kann die Philosophie es beeinflussen, oder beide zusammen, indem die Philosophie den einzelnen oder mehrere einzelne zu einer bestimmten Aktion führt?


Heidegger: Die Philosophie wird keine unmittelbare Veränderung des jetzigen Weltzustandes bewirken können. Dies gilt nicht nur von der Philosophie, sondern von allem bloß menschlichen Sinnen und Trachten. Nur noch ein Gott kann uns retten. Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes oder für die Abwesenheit des Gottes im Untergang; daß wir im Angesicht des abwesenden Gottes untergehen.


SPIEGEL: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ihrem Denken und der Heraufkunft dieses Gottes? Meinen Sie, daß wir den Gott herbeidenken können?


Heidegger: Wir können ihn nicht herbeidenken, wir vermögen höchstens die Bereitschaft der Erwartung zu wecken.


SPIEGEL: Aber können wir helfen?


Heidegger: Die Bereitung der Bereitschaft dürfte die erste Hilfe sein. Die Welt kann nicht durch den Menschen, aber auch nicht ohne den Menschen sein, was sie und wie sie ist. Das hängt nach meiner Ansicht damit zusammen, daß das, was ich mit einem langher überlieferten, vieldeutigen und jetzt abgegriffenen Wort ,,das Sein" nenne, den Menschen braucht zu seiner Offenbarung, Wahrung und Gestaltung. Das Wesen der Technik sehe ich in dem, was ich das Ge-Stell nenne, ein oft verlachter und vielleicht ungeschickter Ausdruck. Das Walten des Ge-Stells besagt: Der Mensch ist gestellt, beansprucht und herausgefordert von einer Macht, die im Wesen der Technik offenbar wird und die er selbst nicht beherrscht. Zu dieser Einsicht zu verhelfen: mehr verlangt das Denken nicht. Die Philosophie ist am Ende. (...)


SPIEGEL: Und wer nimmt den Platz der Philosophie jetzt ein?


Heidegger: Die Kybernetik.


SPIEGEL: Oder der Fromme, der sich offenhält?


Heidegger: Das ist aber keine Philosophie mehr.


SPIEGEL: Was ist es dann?


Heidegger: Das andere Denken nenne ich es.


SPIEGEL: Sie haben gesagt, diese neue Methode des Denkens sei ,,zunächst nur für wenige Menschen vollziehbar". Wollten Sie damit ausdrücken, daß nur ganz wenige Leute die Einsichten haben können, die nach Ihrer Ansicht möglich und nötig sind?


Heidegger: ,,Haben" in dem ganz ursprünglichen Sinne, daß sie sie gewissermaßen sagen können.


SPIEGEL: Die Transmission zur Verwirklichung ist auch von Ihnen nicht sichtbar dargestellt worden.


Heidegger: Das kann ich auch nicht sichtbar machen. Ich weiß darüber nichts, wie dieses Denken ,,wirkt". Es kann auch sein, daß der Weg eines Denkens heute dazu führt, zu schweigen, um das Denken davor zu bewahren, daß es verramscht wird innerhalb eines Jahres. Es kann auch sein, daß es 300 Jahre braucht, um zu ,,wirken".


SPIEGEL: Da wir nicht in 300 Jahren, sondern hier und jetzt leben, ist uns das Schweigen versagt. Wir, Politiker, Halbpolitiker, Staatsbürger, Journalisten et cetera, wir müssen unablässig irgendeine Entscheidung treffen. Mit dem System, unter dem wir leben, müssen wir uns einrichten, müssen suchen, es zu ändern, müssen das schmale Tor zu einer Reform, das noch schmalere einer Revolution ausspähen. Hilfe erwarten wir vom Philosophen, Hilfe auf Umwegen. Und da hören wir nun: Ich kann euch nicht helfen.


Heidegger: Kann ich auch nicht.


SPIEGEL: Das muß den Nicht-Philosophen entmutigen.


Heidegger: Kann ich nicht, weil die Fragen so schwer sind, daß es wider den Sinn dieser Aufgabe des Denkens wäre, gleichsam öffentlich aufzutreten, zu predigen und moralische Zensuren zu erteilen. Vielleicht darf der Satz gewagt werden: Dem Geheimnis der planetarischen Übermacht des ungedachten Wesens der Technik entspricht die Vorläufigkeit und Unscheinbarkeit des Denkens, das versucht, diesem Ungedachten nachzudenken.


SPIEGEL: Sie zählen sich nicht zu denen, die, wenn sie nur gehört würden, einen Weg weisen könnten?


Heidegger: Nein! Ich weiß keinen Weg zur unmittelbaren Veränderung des gegenwärtigen Weltzustandes, gesetzt, eine solche sei überhaupt menschenmöglich. Aber mir scheint, das versuchte Denken könnte die schon genannte Bereitschaft wecken, klären und festigen.


SPIEGEL: Kann und darf ein Denker sagen: Wartet nur, innerhalb von 300 Jahren wird uns wohl etwas einfallen?


Heidegger: Es handelt sich nicht darum, nur zu warten, bis dem Menschen nach 300 Jahren etwas einfällt, sondern darum, aus den kaum gedachten Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters in die kommende Zeit ohne prophetische Ansprüche vorzudenken. Denken ist nicht Untätigkeit, sondern selbst in sich das Handeln, das in der Zwiesprache steht mit dem Weltgeschick.


SPIEGEL: Kommen wir zu unserem Anfang zurück. Wäre es nicht denkbar, den Nationalsozialismus einerseits als Verwirklichung jener ,,planetarischen Begegnung", andererseits als den letzten, schlimmsten, stärksten und zugleich ohnmächtigsten Protest gegen diese Begegnung der ,,planetarisch bestimmten Technik" und des neuzeitlichen Menschen anzusehen? Offenbar tragen Sie in Ihrer Person einen Gegensatz aus, so daß viele Beiprodukte Ihrer Tätigkeit eigentlich nur dadurch zu erklären sind, daß Sie sich mit verschiedenen Teilen Ihres Wesens, die nicht den philosophischen Kern betreffen, an vielen Dingen festklammern, von denen Sie als Philosoph wissen, daß sie keinen Bestand haben - etwa an Begriffen wie ,,Heimat", ,,Verwurzelung" oder dergleichen. Wie paßt das zusammen: planetarische Technik und Heimat?


Heidegger: Das würde ich nicht sagen. Mir scheint, Sie nehmen die Technik doch zu absolut. Ich sehe die Lage des Menschen in der Welt der planetarischen Technik nicht als ein unentwirrbares und unentrinnbares Verhängnis, sondern ich sehe gerade die Aufgabe des Denkens darin, in seinen Grenzen mitzuhelfen, daß der Mensch überhaupt erst ein zureichendes Verhältnis zum Wesen der Technik erlangt. Der Nationalsozialismus ist zwar in die Richtung gegangen; diese Leute aber waren viel zu unbedarft im Denken, um ein wirklich explizites Verhältnis zu dem zu gewinnen, was heute geschieht und seit drei Jahrhunderten unterwegs ist. (...)


SPIEGEL: Wir haben im Moment eine Krise des demokratisch-parlamentarischen Systems. Können nicht doch von seiten der Denker, quasi als Beiprodukt, Hinweise darauf kommen, daß entweder dieses System durch ein neues ersetzt werden muß oder daß Reform möglich sein müsse? Sollte nicht doch der Philosoph bereit sein, sich Gedanken zu machen, wie die Menschen ihr Miteinander in dieser von ihnen selbst technisierten Welt, die sie vielleicht übermächtigt hat, einrichten können? Erwartet man nicht doch zu Recht vom Philosophen, daß er Hinweise gibt, wie er sich eine Lebensmöglichkeit vorstellt, und verfehlt nicht der Philosoph einen Teil seines Berufs und seiner Berufung, wenn er dazu nichts mitteilt?


Heidegger: Soweit ich sehe, ist ein einzelner vom Denken her nicht imstande, die Welt im Ganzen so zu durchschauen, daß er praktische Anweisungen geben könnte, und dies gar noch angesichts der Aufgabe, erst wieder eine Basis für das Denken selbst zu finden. Das Denken ist, solange es sich selber ernst nimmt angesichts der großen Überlieferung, überfordert, wenn es sich anschicken soll, hier Anweisungen zu geben. Aus welcher Befugnis könnte dies geschehen? Im Bereich des Denkens gibt es keine autoritativen Aussagen. Die einzige Maßgabe für das Denken kommt aus der zu denkenden Sache selbst. Diese aber ist das vor allem anderen Fragwürdige. Um diesen Sachverhalt einsichtig zu machen, bedürfte es vor allem einer Erörterung des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Wissenschaften, deren technisch-praktische Erfolge ein Denken im Sinne des philosophischen heute mehr und mehr als überflüssig erscheinen lassen. Der schwierigen Lage, in die das Denken selbst hinsichtlich seiner eigenen Aufgabe versetzt ist, entspricht daher eine gerade durch die Machtstellung der Wissenschaften genährte Befremdung gegenüber dem Denken, das sich eine für den Tag geforderte Beantwortung praktisch-weltanschaulicher Fragen versagen muß.


SPIEGEL: Herr Professor, im Bereich des Denkens gibt es keine autoritativen Aussagen. So kann es eigentlich auch nicht überraschen, daß es auch die moderne Kunst schwer hat, autoritative Aussagen zu machen. Gleichwohl nennen Sie sie ,,destruktiv". Die moderne Kunst versteht sich selbst oft als experimentelle Kunst. Ihre Werke sind Versuche ...


Heidegger: Ich lasse mich gern belehren.


SPIEGEL: ... Versuche aus einer Situation der Vereinzelung des Menschen und des Künstlers heraus, und unter 100 Versuchen findet sich hin und wieder einmal ein Treffer.


Heidegger: Das ist eben die große Frage: Wo steht die Kunst? Welchen Ort hat sie?


SPIEGEL: Gut, aber da verlangen Sie etwas von der Kunst, was Sie vom Denken ja auch nicht mehr verlangen.


Heidegger: Ich verlange nichts von der Kunst. Ich sage nur, es ist eine Frage, welchen Ort die Kunst einnimmt.


SPIEGEL: Wenn die Kunst ihren Ort nicht kennt, ist sie deshalb destruktiv?


Heidegger: Gut, streichen Sie es. Ich möchte aber feststellen, daß ich das Wegweisende der modernen Kunst nicht sehe, zumal dunkel bleibt, worin sie das Eigenste der Kunst erblickt oder wenigstens sucht.


SPIEGEL: Auch dem Künstler fehlt die Verbindlichkeit dessen, was tradiert worden ist. Er kann es schön finden, und er kann sagen: Ja, so hätte man vor 600 Jahren malen mögen oder vor 300 oder noch vor 30. Aber er kann es ja nun nicht mehr. Selbst wenn er es wollte, er könnte es nicht. Der größte Künstler wäre dann der geniale Fälscher Hans van Meegeren, der dann ,,besser" malen könnte als die anderen. Aber es geht eben nicht mehr. So ist also der Künstler, Schriftsteller, Dichter in einer ähnlichen Situation wie der Denker. Wie oft müssen wir doch sagen: Mach die Augen zu.


Heidegger: Nimmt man als Rahmen für die Zuordnung von Kunst und Dichtung und Philosophie den ,,Kulturbetrieb", dann besteht die Gleichstellung zu Recht. Wird aber nicht nur der Betrieb fragwürdig, sondern auch das, was ,,Kultur" heißt, dann fällt auch die Besinnung auf dieses Fragwürdige in den Aufgabenbereich des Denkens, dessen Notlage kaum auszudenken ist. Aber die größte Not des Denkens besteht darin, daß heute, soweit ich sehen kann, noch kein Denkender spricht, der ,,groß" genug wäre, das Denken unmittelbar und in geprägter Gestalt vor seine Sache und damit auf seinen Weg zu bringen. Für uns Heutige ist das Große des zu Denkenden zu groß. Wir können uns vielleicht daran abmühen, an schmalen und wenig weit reichenden Stegen eines Überganges zu bauen.


SPIEGEL: Herr Professor Heidegger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

 

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